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Posts Tagged ‘Deutschland’

Der moderne Hexenmeister

WM-Kolumne #4

Einen Tag nach dem gelungenen Auftakt für die deutsche Mannschaft im Spiel gegen Australien sind die Kritiker von Bundestrainer Jogi Löw verstummt. Keiner würde sich heute mehr vorwagen und davon sprechen, dass man Klose nicht einsetzen solle, da der doch sowieso nicht treffe, viel zu wenig Chancen nutze und im Verein ja auch nur wenig spielt. Auch Podolski steht nun fern aller Kritik.

Auf der heutigen Pressekonferenz erklärte der Bundestrainer seine Philosophie hinter der Entscheidung. Ihm gehe es um ein Vertrauensverhältnis, das aufgebaut wird und eine Spielkultur, die besonders auf Klose, Gomez und Poldi ausgerichtet sei. Er verstehe auch nicht die immer wieder aufkeimenden Diskussionen um diese Spieler, so beispielsweise im Falle von Podolski, der in allen bisherigen Turnieren und auch in der Vorbereitung überzeugte. Ihm seien die individuellen Leistungen im Verein weniger wichtig als die längerfristige Entwicklung im Nationalteam. Weiterhin ließ Löw auch durchblicken, inwiefern sein grundsätzliches Verständnis vom Spielaufbau beispielsweise im Gegensatz zum Spiel der Münchner Bayern aussieht. In der Nationalmannschaft könne er weniger auf schnelle Außendribbler alla Robben oder Ribery zurückgreifen, sondern verfolge eher ein Kontrolle des Raumes mit kurzem, schnellem Passspiel. Gleichzeitig sei ihm der Bayernblock in der Nationalelf sehr wichtig, da diese Spieler international erfahren seien und auch in ihrer Mannschaft gut zusammenspielten.

Nach dem Spiel sind sich also viele einig: dieser Trainer hat einiges richtig gemacht, er hat eine Auffassung von der Entwicklung einer Mannschaft, die zum einen sehr jung ist, zum anderen aber trotzdem über turniererfahrene Spieler verfügt. Manchmal ist es gar unheimlich, wie dieser Trainer immer wieder kritisiert wird und wie sich diese Kritik Augenblicke später in Luft auflöst. Von Frings und Kuranyi hört man in diesen Tagen indes auch nichts mehr. Löw weiß, was es bedeutet unpopuläre Entscheidungen zu treffen, aber er weiß auch, was ein Vertrauensverhältnis zwischen zwei Männern ausmacht. Löw kennt seine Mannen, er kennt deren Stärken und Schwächen, deren Gefühlslage und Eigenheiten. Mit diesen kann er agieren, sie integrieren, Optionen ventilieren und ein Produkt erzeugen, das über alle Zweifel erhaben ist. Jogi Löw ist der moderne Hexenmeister – risikominimierend und angriffslustig.

Christian Helfricht

Schlimmster Alptraum eines Torwarts

WM-Kolumne #3

Südkorea – Griechenland 2-0
Argentinien – Nigeria 1-0
England – USA 1-1

Es gibt Sekunden, die werden zu Minuten, zu Stunden, zu Ewigkeiten. Es gibt Augenblicke, die vergisst man im Fußball nie, die brennen sich ein ins Mark der Akteure, können zum Aus in der Meisterschaft führen und das Ende einer großen Hoffnung bedeuten. So weit sind wir noch nicht, doch das, was Englands Torwart Robert Green von West Ham United da passierte, wird er so schnell nicht vergessen. In Führung liegend ließen sich die Engländer das Spiel zunehmend von den US-Amerikanern aus der Hand nehmen und so kam Clint Dempsey (der übrigens beim englischen Verein FC Fulham unter Vertrag steht) zum Schuss aufs Tor von Englands Keeper Green, dem der Ball an den Händen nach hinten abklatschte und ins Tor kullerte. Es sind Szenen, die stehen für die schlimmsten Alpträume eines Spielers, oft provozieren sie den Hass einer ganzen Nation. Das englische Boulevard ist zudem für seine vernichtenden Beiträge bekannt.

Im ersten Spiel des Tages gewannen die Südkoreaner gegen schwache Griechen, die auf ganzer Linie versagten. Deren sich allseits verdient gemachter Trainer, Otto Rehagel („Rehakles“), ist für seine ungewohnten Entscheidungen bekannt und lief zunächst mit einer Mannschaft auf, die sich mehr für die Liebe zum Füßehochlegen interessierte, als ein Spiel zu gewinnen. Die Südkoreaner nutzten dies prompt und trafen zur frühen Führung. Überhaupt war es der Tag der frühen Tore. Auch England traf schon nach vier Minuten durch Kapitän Steven Gerrard (FC Liverpool), Argentiniens Abwehrspieler Ivan Gabriel Heinze (Olympique Marseille) lochte in der sechsten Minute zum 1:0 Entstand gegen Nigeria ein.

Die Favoriten für den Turniergewinn haben heute insgesamt nicht überzeugt. Englands schwaches 1:1 gegen die USA reicht nicht, um andere Mannschaften abzuschrecken. Ein Rooney (ManU) allein kann eben auch kein Spiel gewinnen, zumindest nicht gegen eine stramm formierte Abwehr der Amerikaner. Insgesamt bleibt festzuhalten für den heutigen Spieltag: Nichts muss, alles kann – Titelanwärter können straucheln, echte Underdogs sind Geschichte und das Spiel, das uns wirklich vom Hocker reißt haben wir auch noch nicht gesehen. Vielleicht kommt das ja morgen, wenn Deutschland mit seinem ersten Auftritt ins Geschehen eingreift.

Christian Helfricht

Stress vergessen lassen: Der Flieger von Maarten ‚t Hart

Seit Sonntagabend ist Deutschland zurück auf dem Boden der Tatsachen. Nein, wir sind nicht Europameister, zumindest heute sollte es auch der Letzte mitbekommen haben und seine kleinen Fähnchen wieder in der Rumpelkammer (oder besser noch: im Müll) verstaut haben. Und es spricht auch keiner mehr von der EM. Ohne Fußball scheint es sich also doch leben zu lassen, auch mich überrascht das ein wenig …

Man ist eben nie vor Überraschungen gefeit. Ich war heute zum Beispiel überrascht, dass meine Hausarbeit zu Max Weber trotz der wirren Thematik so schnell von der Hand ging und nun morgen schon (oder auch: endlich) abgegeben werden kann. Das ist beruhigend, auch in Anbetracht der Arbeit, die auf dem Schreibtisch wartet. Da liegen die Bücher für die Zwischenprüfung in Philosophie und die Aufsätze für die Deutsch-Hausarbeit zu Hugo von Hofmannsthals Jedermann, und auch die ersten Überlegungen für die Zwischenprüfung in Deutsch sind angestellt.

Bei dieser negativen Uni-Last bleibt nur wenig Ruhe, auch wenn gerade ich immer sehr entspannt an Dinge heran gehe und sie gekonnt auf mich zukommen lasse. So habe ich nun zum ersten Mal das neue, nun endlich auf deutsch erschienene, Buch von Maarten ‚t Hart gelesen, dieser Lieblingsautor meines Herzens, der mir die Eigenarten der niederländischen Kleinstädte näher brachte und mich auf verzwickte Art und Weise zwischen den Auswüchsen von Katholizismus und Protestantismus träumen lässt. Ich muss schon sagen: Diese Buch hat mich beeindruckt. Der Flieger, erschienen im Piper-Verlag, circa 300 Seiten, und keine davon möchte man beim Lesen missen.

Vermissen werde ich die Tage vom Elbhangfest. Dies ist ein Fest, das nun zum mittlerweile 18. Mal zwischen Loschwitz und Pillnitz an den Elbhängen Dresdens mit seiner großartigen Individualität zu überzeugen weiß und das gerade durch die vielen Beteiligungen von Privatpersonen am Leben gehalten wird. Für die Einen ist es nur ein großes Fressen (siehe hier), für Andere ist es der kulturelle Charakter durch vielfältige Ausstellungen, Konzerte, Lesungen und sonstigen Veranstaltungen, für wieder Andere eine interessante Shoppingmöglichkeit alternativer Verbrauchsgegenstände fernab von Ikea und Co.

Der Glasperlenspieler (braucht auch schon wieder ein neues Buch)

Türkisch-deutsche Liebe

(EM-Kolumne, Teil 10)

Spüren Sie auch die Spannung, die momentan das ganze Land beherrscht? Heute Abend scheint sich ein Ereignis zu vollziehen, das mit dem Fall der Berliner Mauer und dem auf den Black Thursday 1929 folgenden Börsencrash zu vergleichen sein könnte. Doch bei aller Euphorie und Liebe für den Fußball darf man nicht vergessen, um was es eigentlich nur geht: den Einzug der Türkei oder Deutschlands in das Finale der Europameisterschaft 2008.

Doch zuerst darf man das ja begrüßen: Da äußern sich Türken zum gemeinsamen Feiern, zu Erfolgszusprechungen beim Gewinn egal welcher Mannschaft, zum Unterstützen des deutschen Teams auch bei einer Niederlage der eigenen Mannschaft. Großartig und vorbildlich. Man geht nur noch mit beiden Flaggen aus dem Hause, schafft neue Mix-Nationalhymnen und beschwört die kulturelle Verständigung auf allen Ebenen. Großartig und vorbildlich.

Nun kann man allerdings auch von den Deutschen etwas mehr Engagement erwarten. So wie es zum Beispiel die Taz auf ihrer heutigen Titelseite vormacht: eine türkisch-deutsche Flagge mit dem Titel „Wir kommen ins Finale“, egal welches Team. Wie aber sieht es in den dunklen Wohnzimmern der treuen Deutschen aus, wie in den Vorgärten der Grillmeister und Spitzengardinenliebhaber oder den Eckkneipen der Randbezirke? Kann man auch hier sagen, man unterstütze beide Teams oder gar das türkische, ohne schief angeschaut zu werden? Man darf doch zumindest daran zweifeln, dass da fast jeder Deutsche zum Multikultifavorisierer wird.

Daniel Bax stellt in der Taz die entscheidende Frage und gibt auch gleich die richtige Antwort: „Was aber, wenn die Türkei gewinnt? Dann können auch jene Deutschen, die nicht türkischer Herkunft sind, ja mal versuchen, für die Türkei zu jubeln.“ In diesem Sinne: ein faires Spiel!

Der Glasperlenspieler

Das große Favoritensterben

(EM-Kolumne, Teil 9)

Das Besondere an großen Meisterschaften liegt gerade in ihrer Unvorhersagbarkeit. Es gibt einen großen Kreis von Favoriten, zum Anfang der EM waren es Portugal, Deutschland, Spanien, Italien, Niederlande und Frankreich, dann gibt es die sogenannten Geheimfavoriten, das waren Russland, Griechenland und Kroatien, und zu gute Letzt gibt es die kompletten Außenseiter, als da wären die Gastgeber Österreich und Schweiz, Polen und Rumänien. Doch vieles hat sich im Laufe der EM verändert, besonders auf Seiten der Favoriten.

Portugal schien in der Vorrunde noch locker durchzumarschieren, doch schon im Viertelfinale war gegen Deutschland Schluss. Das deutsche Nationalteam wird nun nach zwei schwachen Spielen den hohen Erwartungen gerecht. Den Weg ins Viertelfinale verpasst haben die Franzosen, deren veraltete Spielweise nicht mehr ziehen mag, Ähnliches gilt auch für Tschechien.

Doch gestern gab es die zweitgrößte Überraschung der Meisterschaft (die größte bleibt den phänomenalen Türken vorbehalten): Russland wirft den Topfavorit Niederlande mit einer bärenstarken Leistung aus dem Turnier und spielt den modernsten Fußball, den man unter den europäischen Teams gesehen hat. Eine junge Mannschaft mit einem erfahrenen Trainer, Guus Hiddink, deren Zeit vielleicht noch nicht zu dieser EM gekommen ist, der aber die Zukunft gehört.

Und auch heute muss ein Topfavorit gehen: Italien verliert im Elfmeterschießen mit 2:4 gegen Spanien. Das große Favoritensterben geht also weiter. Nun wird Spanien Gegner des russischen Teams. Viel Spaß dabei!

Der Glasperlenspieler