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„Es gab auch das normale Leben“

In der heutigen Sonntagsausgabe des Tagesspiegels äußert sich Lothar de Maizière, letzter Ministerpräsident der DDR, zum eigenen Erinnern an das Alltägliche und zu den Reflexionen der Gegenwart auf vierzig Jahre deutsche Geschichte Ost. Es ist als Antwort auf die gegenwärtige Debatte um eine angebliche Verharmlosung des DDR-Geschichtsverständnisses zu verstehen.

Lothar de Maizière über das Erinnern:
„Die Alltagsdinge, die einen beschwerten, sind nicht mehr präsent: Dass man 20 Jahre auf eine Wohnung wartete – ich hatte seit 1980 eine Dringlichkeitsbescheinigung, weil ich mit drei Kindern in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung wohnte. Oder dass alle drei Kinder meiner Schwester, die Pastorin war, nicht zur Erweiterten Oberschule gehen durften. All diese Dinge geraten in Vergessenheit, weil es wohl auch in der Natur des Menschen liegt, sich an die positiven Dinge erinnern zu wollen und die negativen zu verdrängen.“

über das ’normale‘ Leben:
“ […] dass es eben auch normales Leben im unnormalen gegeben hat. Es gab die gleiche Freude auf den Sommerurlaub, der zwar nicht auf Mallorca, sondern vielleicht an den märkischen Seen verbracht wurde. Auch das konnte glücklich machen. Man hatte sich eingerichtet in den Beschränkungen.

über undifferenzierte Nostalgie:
“ Das liegt […] daran, dass wir nach der Wende eine ebenso undifferenzierte Verneinung all dessen gehabt haben, was die DDR ausmachte.“

über die einseitige Betrachtung:
„Es entsteht immer dieses Schwarz-Weiß-Schema. Es gab in der DDR vielleicht zwei Prozent Opfer und vielleicht drei Prozent Täter. Und 95 Prozent waren Volk. Die wollten auch gar nichts anderes sein, wollten für sich und ihre Familie das Beste aus ihrem Leben machen. Im Nachhinein aber wird die DDR-Bevölkerung eingeteilt in Täter und Opfer. Nun müssen die Leute alle sehen, wie sie auf das Opfer-Ufer kommen, weil sie sonst alle zu den Tätern gerechnet werden. Sie müssen ihre Widerstandsgeschichten erzählen und wie oft sie die Faust in der Hosentasche geballt haben. Aber sie waren weder das eine noch das andere.“

über das lange Bestehen der DDR:
„Ich bin manchmal ärgerlich, wenn gesagt wird, die DDR sei ein einziger Schrotthaufen gewesen. Die Menschen haben nach dem Krieg eine unglaubliche Aufbauleistung erbracht, und zwar ohne Marshallplan und bei gleichzeitiger Demontage und bei gleichzeitigen Reparationszahlungen an die Sowjetunion.“

über die Sicht der anderen:
„Ein Großteil der Westdeutschen nimmt den Ostdeutschen übel, dass sich ihr westdeutsches Leben verändert hat, ohne zu erkennen, dass es sich durch die Globalisierung ohne die deutsche Wiedervereinigung genauso verändert hätte.“

Es dokumentiert:
Der Glasperlenspieler
(liest aktuell: Peter Handke – Der kurze Brief zum langen Abschied)